F : Roman

Kehlmann, Daniel, 2013
Öffentliche Bücherei Mutters
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Medienart Buch
ISBN 978-3-498-03544-0
Verfasser Kehlmann, Daniel Wikipedia
Systematik DR - Romane, Erzählungen, Novellen
Interessenskreis geheimnisvoller Roman
Schlagworte Familie, Lüge, Wahrheit
Verlag Rowohlt
Ort Reinbek bei Hamburg
Jahr 2013
Umfang 379 S.
Altersbeschränkung keine
Auflage 1. Aufl.
Sprache deutsch
Verfasserangabe Daniel Kehlmann
Annotation Die Geschichte dreier Brüder, von denen jeder auf seine Weise ein Betrüger, Heuchler und Fälscher ist.Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Andreas Freinschlag;
Der gut konstruierte Roman handelt spannend von Täuschungen. (DR)
Der Roman bietet gute Unterhaltung und ist leichte Lektüre. Die zwei großen Themen, die der Autor schon in allen seinen früheren Texten variiert hat, sind Täuschung und Zweifel an der Weltwahrnehmung. Vier Hauptfiguren, aus deren Leben Ausschnitte gezeigt werden, haben mit den entsprechenden existenziellen Problemen zu kämpfen: der Schriftsteller Arthur, dessen älterer Sohn Martin, der nicht gläubig ist und dennoch Kleriker wird, sowie Arthurs jüngere Söhne, die Zwillinge Eric und Iwan, von denen der erstere Finanzspekulant, der andere Kunstfälscher wird. Die Lebenswege sind auf verhängnisvolle Weise miteinander verbunden; Hypnose und Wahrsagerei gehören dabei zu den Deutungsmächten, die bei den Figuren und vielleicht auch beim Lesepublikum für Verunsicherung sorgen. Die erzählte Welt enthält zahlreiche kulturhistorische und technologische Versatzstücke aus der realen Alltagswelt der Zeit von den 1980er Jahren bis ins Jahr 2008.
Stilistisch und kompositorisch ist der Roman, anders als die eher schwächeren ersten zehn Seiten vermuten lassen, zum großen Teil gelungen. Die Makrostruktur ist stimmig, die Komposition im Kleinen führt zahlreiche sketchartige Szenen zu überraschenden Pointen, die zu den Stärken des Romans zählen.

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Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Helmut Gollner;
Der freie Schriftsteller
Zu Daniel Kehlmanns neuem Roman
Vater Arthur Friedland, Schriftsteller, hat drei Söhne, Martin, Iwan und Eric. Alle drei sind Identitätsbetrüger, keiner ist, was er vorgibt zu sein. Martin ist Pfarrer und glaubt nicht an Gott, Iwan hat einen schwungvollen Kunstbetrug aufgezogen, und Eric ist Vermögensberater, der seine Klienten und sich längst in den Ban­krott geführt hat. Die drei Äpfel fallen nicht weit vom Stamm: Als geistige Vorleistung für die Identitätsbetrügereien der Söhne hat der Vater Identität grundsätzlich dekonstruiert. Sein nihilistischer Roman Mein Name sei Niemand wurde ein Kultbuch und stimulierte ein paar Leute zum Selbstmord. Darin versichert der Autor dem Leser, "dass du, jawohl du, und das ist keine rhetorische Wendung, dass also du nicht existierst". Die ganze Welt sei leer, nur Modell unseres ­Geistes. Und unser Geist: "Vergiss nicht: Im Gehirn wohnt niemand. [] Such, so lange du willst, niemand ist zu Hause. Die Welt ist in dir, und du bist nicht da." Das sogenannte Bewusstsein ist "ein Traum, den niemand träumt". Wenn die Welt nur Schein ist (Vater), ist jede Fälschung gerechtfertigt bzw. keine Fälschung mehr (Söhne).
"Pflichten", sagt Vater Arthur, der seine Söhne und deren Mütter aus Karrieregründen verlassen hat, "wir erfinden sie nach Bedarf. Niemand hat sie." - Pfarrer Martin erteilt einem Mörder die Absolution aus Hilflosigkeit und Ignoranz, "warum denn nicht! Es gibt keinen Gott." Martin ist dick, verschwitzt, versäumte die Frauen und vernachlässigte die Onanie. - Eric übernimmt das Vermögen auch seines Chauffeurs zur Verwaltung, im Wissen, dass er einen neuen Klienten ruinieren wird; ansonsten leidet er an Paranoia, Klaustrophobie und sozialer Impotenz. - Iwan ist nicht nur heimlicher Hersteller der Bilder des gehypten Medienphantoms Eulenböck, sondern auch sein Verwalter, später Nachlass­verwalter sowie sein Sammler und sein erster Kunstexperte (inklusive Dissertation); ein korrupter Schöngeist. Bruder Eric, dessen Betrügereien in der großen Finanzkrise untergegangen sind, wird Iwans Kunstbetrugs­geschäft, nachdem dieser auf der Straße erstochen worden ist, übernehmen. Für diese Wendung wird Eric Gott danken und mit seiner neuen Gläubigkeit dem atheistischen Pfarrer-Bruder Martin auf die Nerven gehen. Martin hat dem jungen Messerstecher, der seinen Bruder Iwan ermordet hat, nicht nur die Absolution erteilt, sondern ihn inzwischen auch - ohne Kenntnis der Zusammenhänge - als seinen Messdiener aufgenommen.
Das ist Satire-Struktur, ziemlich zynische Ausprägung. Die Auflösung von Wirklichkeit (Vater) und die dadurch ermöglichte Auflösung von Wahrheit, Sinn und Werten (Söhne) kann man unserem Zeitgeist auflasten; und als eine Befundung des Zeitgeists wurde Kehlmanns Roman vom Feuilleton meistenteils aufgefasst.
Kehlmanns Roman ist aber nicht nur Zeuge postmodernen Zeitgeists, sondern auch sein Produkt. Kehlmann hat einen philosophischen Kopf und weiß, dass Wirklichkeit ein relativer Begriff ist; vor allem in seinen frühen Romanen hat er ihre Verlässlichkeit ständig unterlaufen. Er hat einen eminent literarischen Kopf und weiß, dass die von der Literatur vermittelte Wirklichkeit nichts weniger ist als die außerliterarische Wirklichkeit; in seinem letzten Roman Ruhm löste er sie auf zum Material eines amüsanten Spiels. Sohn Martin weiß nicht recht, ob das Buch seines Vaters "das zweckfreie Produkt eines spielenden Geistes ist oder ein böswilliger Angriff auf die Seele jedes Menschen, der es liest". Es ist beides, insofern die Verunsicherung von Welt und Ich die aus Welt- und Ichgewissheit gefügten Seelen verunsichert. Martin hat beim Lesen des väterlichen Romans das Gefühl, "als bedeute kein Satz einfach sich selbst, als beobachte die Geschichte ihren eigenen Fortgang". Und der Leser von Kehlmanns Roman hat manchmal das Gefühl, das Martin hat. Der Roman hat eine Tendenz zum Metaroman.
Daniel Kehlmann kann sehr vieles. Er kann brillant erzählen: auf Kommentare verzichten und das Erzählte als reines Geschehen ablaufen lassen; die Dinge in ihrer fugenlosen Konkretheit beschreiben und sich zugleich in dezenter Ironie von ihnen absetzen; er kann Spannung erzeugen, Gewiss­heiten destabilisieren, Rätsel ungelöst lassen, manchmal sogar ein wenig den Boden unter den Füßen wanken machen, das Kapitel über den Hypnotiseur Lindemann konkurriert erfolgreich mit Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer; er ist der Souverän, kann spielen, was er will: jetzt hört mal zu und lasst euch faszinieren. Kehlmann beherrscht die geschliffene Formulierung; baut lakonische und schlagfertige Dialoge; sowie glänzende Kurzporträts (im Kapitel "Familie"), eine geradezu übermütige Fingerübung; Kehlmann ist ein meist kluger Konstrukteur und Dramaturg seiner Geschichten; er ist enorm belesen, ohne damit aufdringlich zu werden.
Daniel Kehlmann ist "freier" Schriftsteller aber auch in dem Sinn, dass er weniger an die Intensität/Not seiner Existenz gebunden scheint als sehr viele andere. Ein Herzblutautor ist er nicht. Da fällt die postmoderne Auflösung von Wahrheit, die Distanzierung von Wirklichkeit leichter. Andererseits sind wir im Leben darauf angewiesen, das Wirkliche auch für wahr zu nehmen, wir verbringen immerhin unser ganzes Schicksal darin. "Und ist es nicht wahr, so tut es doch weh", sagt Thomas Bernhard. Kehlmanns souveräne Bücher machen ein wenig den Eindruck, dass nichts weh tut. Auch der vorliegende Roman besteht aus viel Talent und wenig Not. Natürlich entscheidet nicht die Not des Autors über die Qualität seines Buches. Aber es kann sein, dass der Mangel an Not einen Mangel an Notwendigkeit für das Erzeugnis nach sich zieht.
Schuld des Autors ist das sowieso nicht, und Vorwurf lässt sich daraus keiner ableiten. Abseits der Frage von Not und Notwendigkeit bleibt ein gut gebauter Roman, der streckenweise richtig spannend ist, manchmal magisch, der illusionslos intelligent ist in seinen Äußerungen zu Religion, Ästhetik und F 693 inanzwelt.